Das Institut für Medizinrecht unter Leitung von Prof. Dr. Christian Katzenmeier richtete vom 9. bis 11. Mai 2024 in Köln die 8. Jahrestagung der wissenschaftlichen Vereinigung der deutschsprachigen Medizinrechtslehrerinnen und -lehrer aus. Unter dem Titelthema „Arzt – Patient – Gesellschaft” diskutierten über einhundert Teilnehmer auf der Grundlage von zehn Einzelvorträgen über zentrale Entwicklungslinien des Medizinrechts, die heute vor allem durch eine zunehmende Verwissenschaftlichung, Verrechtlichung, Vergesellschaftung, Ökonomisierung und Digitalisierung in der modernen Medizin bestimmt werden. Das Fachprogramm im Amélie Thyssen Auditorium der Fritz Thyssen Stiftung, welche die Ausrichtung großzügig unterstützte, wurde umrahmt von Stadtführung, Museumsbesuch und zwei unvergesslichen Abendveranstaltungen.
Einen ersten Höhepunkt vor der offiziellen Tagungseröffnung bildete am Begrüßungsabend die Dinner Speech von Prof. Dr. Dieter Hart (Universität Bremen). Hart zeichnete, angereichert durch persönliche Beobachtungen und Einschätzungen aus jahrzehntelanger Forschung, die Entwicklung des Arztrechts zum Medizinrecht mit seinen gesundheitsrechtlichen Bezügen in den vergangenen knapp vierzig Jahren nach (tags darauf veröffentlicht in MedR 2024, 299 ff.)
Am Folgetag eröffnete Prof. Dr. Christian Katzenmeier als Organisator und Veranstalter das Treffen mit einem einführenden Rückblick und Ausblick. In einem ersten Themenblock „Patientenrechte“ referierte zunächst Prof. Dr. Thomas Gutmann (Universität Münster) zum „Grundrechtsgehalt der Patientenrechte“. Gutmann geht davon aus, dass die einfachrechtliche Ausgestaltung des Arzt-Patienten-Verhältnisses im Behandlungsvertragsrecht der §§ 630a ff. BGB umfassend im Licht der Grundrechtspositionen der Beteiligten zu interpretieren sei. Mit dieser „verfassungsrechtlichen Überformung“ seien vor allem veränderte Erwartungen an juristische Begründungen verbunden. Anschließend stellte Prof. Dr. Adrian Schmidt-Recla (Universität Jena) unter dem Titel „Ärztlicher Paternalismus – Patientenwohl und Patientenautonomie“ fest, dass ein gewisser Paternalismus den Medizinalberufen nach wie vor immanent ist. Patientenwohl und -autonomie seien heute oft so ineinander verschlungen, dass der Übergang von Freiheit zu Bevormundung verwische. Zur Abgrenzung diskutierte Schmidt-Recla verschiedene Modelle aus den medizinrechtsnahen Fürsorgeverhältnissen des bürgerlichen Rechts (Kind- und Vormundschaft, Betreuung).
Auf die Referate folgte eine erste lebhafte Diskussionsrunde unter Leitung von Prof. Dr. Andreas Spickhoff (Ludwig-Maximilians-Universität München) über die Bedeutung der Grundrechte im Privatrecht sowie die selbstbestimmte Entscheidungsfindung im Arzt-Patienten-Verhältnis.
Im zweiten Vortragsblock über „Neue Wege der Patientenentschädigung“ berichtete zunächst Prof. Dr. Karl Stöger (Universität Wien) von den seit über zwanzig Jahren etablierten „Patientenentschädigungsfonds in Österreich – Entwicklung, Ausgestaltung, Erfahrungen“. Für das Gesundheitswesen stellten vor allem die strukturellen Unterschiede zwischen den österreichischen Bundesländern eine Herausforderung dar. Berechtigte verfassungsrechtliche Einwände richteten sich gegen das Fehlen eines Rechtsanspruchs der Patienten auf Entschädigung aus den von ihnen allein aufgebrachten Fondsmitteln. Insgesamt tauge das österreichische Fondsmodell jedenfalls nicht als Vorbild für andere Länder. Im Anschluss stellte Prof. Dr. Mark Makowsky (Universität Mannheim) den Rechtsrahmen für „Haftungsersetzende und haftungsergänzende Versicherungs- und Fondslösungen für Behandlungsschäden“ in Deutschland vor. Kritisch sieht Makowsky einen Fonds, der Patienten unterhalb der Schwelle des § 286 ZPO, also bereits bei überwiegender Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Behandlungsfehlers entschädigt. Dies drohe die Individualhaftung zu verdrängen und führe zu einer ungerechtfertigten Privilegierung gegenüber anderen Geschädigten. Insgesamt erscheine der sozialpolitische Bedarf nach einem Fonds angesichts der umfassenden Absicherung von Personenschäden durch ein System sozialer, privat beliebig erweiterbarer Vorsorge nach wie vor fraglich.
In der von Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Lipp (Georg-August-Universität Göttingen) geleiteten Diskussionsrunde sprachen die Teilnehmer über die Präventionswirkung des Haftungsrechts und die Abgrenzbarkeit der von einem Entschädigungsfonds erfassten Risiken in der Praxis.
Im dritten Tagungsabschnitt „Das Gesundheitswesen nach der Pandemie“ beschrieb Prof. Dr. Andrea Kießling (Goethe-Universität Frankfurt) die „Rolle des Öffentlichen Gesundheitsdienstes“ (ÖGD) in der Corona-Pandemie. Sie zeichnete die historische Entwicklung des ÖGD zur dritten Säule neben ambulanter und stationärer Versorgung im Gesundheitssektor nach. Heute sei der Erlass zeitgemäßer ÖGD-Gesetze der Länder dringend erforderlich. Prof. Dr. Thorsten Kingreen (Universität Regensburg) fragte sodann nach „Freiheitsrechtsrechten in der Gesundheitskrise: Staatliche Vernunfthoheit gegen individuelle Unvernunft?“ Jede Beschränkung der freiheitsrechtlich geschützten Unvernunft erfordere stets eine sorgfältige Abwägung mit den betroffenen Rechtsgütern, namentlich dem Leben und der körperlichen Unversehrtheit. Die Verhältnismäßigkeit freiheitsbeschränkender Maßnahmen sei durch klare gesetzliche Vorgaben und eine angemessene gerichtliche Kontrolldichte sicherzustellen. Im Zusammenhang mit der Pandemie kritisiert Kingreen insoweit den vom Bundesverfassungsgericht gewährten weiten Ermessensspielraum des Gesetzgebers und das expertokratisch anmutende Vorgehen der Bund-Länder-Konferenzen.
Zum Abschluss des ersten Tages diskutierten die Teilnehmer unter Moderation von Prof. Dr. Stefan Huster (Ruhr-Universität Bochum) über die Funktionsweise des ÖGD und nötige Verbesserungen im Hinblick auf mögliche kommende Pandemien.
Zu Beginn des zweiten Tages wurde das Fachprogramm mit dem vierten Vortragsblock zum „Wirtschaftsstrafrecht im Gesundheitswesen“ fortgesetzt. Prof. Dr. Karsten Gaede (Bucerius Law School) referierte über „Sanktionen des Sozialrechts – Zündstoff im Medizinwirtschaftsstrafrecht? Die nächste Karriere des Abrechnungsbetruges“. Kernnorm des Medizinwirtschaftsstrafrechts sei heute in der Praxis weiterhin der Abrechnungsbetrug und nicht das 2016 eingeführte Korruptionsdelikt des § 299a StGB. Soweit der BGH dabei zur Auslegung des § 263 StGB unkritisch auf das Sanktionsregime des primär der Aufstellung von Qualitätsanforderungen verpflichteten Sozialrechts zurückgreift, sei die Rechtsprechung nicht hinreichend differenziert. Gaede regte an, die sozialrechtlichen Sanktionen als solche zu überdenken oder jedenfalls den Straftatbestand einzugrenzen. Prof. Dr. Michael Lindemann (Universität Bielefeld) gewährte sodann einen Einblick in „Healthcare Compliance – Kooperation und Korruption“. Dogmatisch liege die Anwendung der §§ 299a und b StGB auf Kooperationen von Heilberufen, denen eine Zuführungskomponente innewohnt, angesichts der tatbestandlichen Unschärfe nahe. Orientierung und Sicherheit in der Praxis bieten die zunehmend etablierten, verpflichtend einzurichtenden Strukturen der Healthcare Compliance. Dazu gehöre die Entwicklung belastbarer Methoden, durch welche der Erfolg von Compliance-Bemühungen wie Antikorruptionsprogrammen messbar wird. Hierzu präsentierte Lindemann auch die Ergebnisse eigener qualitativer Forschungsstudien.
Die folgende Diskussion (Moderation: Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Waßmer) wandte sich im Einzelnen den medizinstrafrechtlichen Fragestellungen und ihren Schnittstellen zum Sozialrecht zu.
Im fünften und letzten Themenblock widmete sich Prof. Dr. Brigitte Tag (Universität Zürich) mit einem Einzelvortrag der „Digitalisierung der Gesundheitssysteme“. Die Digitalisierung werde schon heute in allen Stadien der medizinischen Behandlung relevant, ihre Implementierung durch den technischen Fortschritt, den Fachkräftemangel und nicht zuletzt die einschlägige Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene noch beschleunigt. Herausforderungen ergäben sich durch die hohen Kosten von Innovationen, mangelnde IT-Kompetenz der Beteiligten und eine veraltete Infrastruktur. Als Negativbeispiel diene die schleppende Einführung von elektronischen Patienten- und Gesundheitsakten im deutschsprachigen Raum. Bei der Verarbeitung höchstsensibler Gesundheitsdaten seien die Themen Datenschutz und Datensicherheit von besonderer Relevanz. Hier mangele es an zeitgemäßen einheitlichen Standards.
Im Anschluss diskutierten die Teilnehmer unter Moderation von Prof. Dr. Martin Stellpflug (D+B Rechtsanwälte) über Einwilligungslösungen für die Verwendung von Patientendaten und konkrete Missbrauchsrisiken. Katzenmeier schloss das Fachprogramm mit dem Aufruf, bei allen Fortschritten der zunehmend digitalisierten Medizin die Risiken im Blick zu behalten. Es handele sich nicht um ein rein technisches, sondern ein soziales Thema, dessen Bewältigung Aufgabe des Rechts und damit auch und gerade der Medizinrechtslehrerinnen und -lehrer sei.
Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Hillenkamp (Universität Heidelberg) bedankte sich zuletzt im Namen aller für eine hochinteressante und perfekt organisierte Kölner Tagung. Die Referate werden veröffentlicht in der Zeitschrift Medizinrecht (MedR) 2024, Heft 9.
Bericht von Dr. Christoph Jansen und Sonja Lichtenberg, Institut für Medizinrecht