Seit nunmehr 16 Jahren treffen sich beim „International Students‘ Seminar“ Studierende und Promovierende, um über staats- und verfassungsrechtliche Themen zu diskutieren. Im November 2019 fand das Seminar an der Universität in Vilnius statt. Teilgenommen haben Studierende und Promovierende der Kenyatta Universität in Nairobi (Kenia), Universität zu Köln (Deutschland), Universität Pécs (Ungarn), Universität Łódź (Polen), von der Moskauer Staatlichen Lomonossow Universität (Russland) sowie der Europäischen Humanistischen Universität, der weißrussischen Exiluniversität in Vilnius. An der Universität zu Köln ist das Institut für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung für die Organisation und Begleitung der deutschen Delegation zuständig.
Das diesjährige Thema ist in allen teilnehmenden Staaten brandaktuell: Unter dem Titel „Judicial Power in Modern Society“ wurde die Rolle der Gerichte in einer modernen Gesellschaft beleuchtet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten die völker-, europa- sowie staatsrechtlichen Vorgaben für eine unabhängige Justiz. Daneben wurde auch der Umgang der Justiz mit (Rechts-)Populismus sowie die besondere Rolle von Verfassungsgerichten thematisiert. Die unterschiedlichen Aspekte wurden in verschiedenen Panels, die jeweils mit Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Universitäten besetzt waren, diskutiert.
Im ersten Panel wurde zunächst grundlegend das Prinzip der Gewaltenteilung mit besonderem Blick auf die Judikative besprochen. Die Teilnehmerin der Universität zu Köln sprach hier über die Kritik an den Wahlen zur Bundesverfassungsrichterin/ zum Bundesverfassungsrichter in Deutschland. In Litauen wird kontrovers diskutiert, ob das Verfassungsgericht überhaupt Teil der Judikative ist. Die russische Teilnehmerin beleuchtete dann die Grenzen der verfassungsrechtlichen Rechtsfortbildung in Russland, während ein kenianischer Student die Umsetzung der Gewaltenteilung in Kenia und die diesbezüglichen Schwierigkeiten beschrieb. Die Diskussion ermöglichte einen tieferen Blick auf die Rolle der Gerichte und insbesondere der Verfassungsgerichte im Staatssystem: Sind die Gerichte politische Institutionen oder legen sie nur Rechtsnormen aus? Dabei sind selbstverständlich im aktuellen System auch die Einflüsse der Europäischen Union und der Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung. Eine Teilnehmerin beleuchtete dahingehend die Lage in Polen, wo Institutionen der Europäischen Union eine federführende Rolle spielen. Ein Teilnehmer aus Ungarn referierte zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bezug auf das Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH.
Das zweite Panel stieg tiefer in die Materie ein. Welche Anforderungen stellen die jeweiligen Rechtsordnungen an die richterliche Unabhängigkeit? Welche Immunitäten genießen Richterinnen und Richter? Besonders spannend war hier die weißrussische Perspektive. Während die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter zwar aufgrund der Verfassung gewährt ist, wird sie durch Dekrete der Exekutive faktisch wieder eingeschränkt, indem beispielsweise die Amtszeit von Richterinnen und Richtern nicht auf Lebenszeit gewährt ist, sondern immer wieder verlängert werden muss. Besonders herausragend war auch der Beitrag der Kölner Studentin Ronja Keil, die mit dem Preis für den besten Vortrag gekrönt wurde. Sie kritisierte aus europarechtlicher Sicht die im CETA vorgesehenen Investitionsschiedsverfahren.
Das dritte Panel beleuchtete dann die Rolle der Gerichtsbarkeit in Zeiten des Kampfes gegen den Populismus. Während der Kölner Vortrag die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts in Bezug auf rechtspopulistische Parteien beleuchtete, sprach ein kenianischer Student über die Rolle des Obersten Gerichtshofs bei politischen Debatten in Kenia. Auch wurde über das Phänomen des justiziellen Populismus debattiert.
Der krönende Abschluss fand sich im letzten Panel. Hier wurde noch mal spezifisch die Rolle der Verfassungsgerichte in den jeweiligen Staaten besprochen. Der Beitrag einer Kölner Doktorandin erläuterte das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof und zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Kontrovers diskutiert wurden vor allem die beiden Beiträge aus Russland zum Verhältnis des dortigen Verfassungsgerichts zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und zum Menschenrechtsschutz.
Durch die vielfältigen Beiträge aus den unterschiedlichen Ländern war so ein außergewöhnlicher Dialog möglich. Rechtsvergleichung ist immer ein gewinnbringendes Unterfangen, insbesondere bei gesellschaftlich derart relevanten und kontroversen Themen.
Abgerundet wurde das Seminar durch ein kulturelles Programm. Es wurde eine Führung durch die Universität Vilnius angeboten, wo die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die älteste Bibliothek Litauens mit Blick über die Stadt bewundern konnten. Zudem besuchten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Gerichtsverwaltung, wo sich spannende Einblicke in das litauische Gerichtssystem ergaben.
Im nächsten Jahr wird das Seminar an unserer Kölner Fakultät stattfinden! Wir freuen uns schon jetzt, unsere Gäste aus aller Welt hier empfangen zu können.
Bericht von Anna Börger und Michael Riepl
Institut für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung