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6. Kölner Medizinrechtstag: „Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven“ | 10. März 2017

Am 10. März 2017 fand der 6. Kölner Medizinrechtstag statt. Das Institut für Medizinrecht der Universität zu Köln richtete die Tagung diesmal in Kooperation mit ceres, dem Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health, im Amélie Thyssen Auditorium der Fritz Thyssen Stiftung aus. Einmal mehr war der Kölner Medizinrechtstag rasch ausgebucht, zahlreiche Wissenschaftler und Praktiker aus Medizin und Recht, Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik waren der Einladung der Veranstalter gefolgt, um unter dem Titel „Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven“ über ebenso spannende wie grundlegende Fragen im Kontext von medizinischer Behandlungsqualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitsversorgung zu diskutieren.

Anlass für die Veranstaltung war der Befund, dass Medizin, Ökonomie, Ethik, Haftungs- und Sozialrecht unterschiedliche Anforderungen in Form divergierender Standards an das medizinische Behandlungsgeschehen stellen. Dies verursacht Spannungen zwischen den betroffenen Wissenschaftsdisziplinen, führt bereits zu ernsten Konflikten in der medizinischen Praxis, ruft Steuerungsprobleme im Gesundheitswesen hervor und belastet das Verhältnis zwischen Arzt und Patient mitunter erheblich. Führende Vertreter ihres Faches haben in einer interdisziplinären Expertengruppe die verschiedenen Standardbegriffe sowie die Folgen ihrer Divergenzen aus Sicht von Wissenschaft und Praxis untersucht und Lösungsansätze für eine Harmonisierung der Anforderungen entwickelt. Erste Ergebnisse wurden auf der Tagung der Fachöffentlichkeit präsentiert und zur Diskussion gestellt.

Das Projekt wurde von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Deren Vorstand, Dr. Frank Suder, hob zu Beginn der Tagung in einem einleitenden Grußwort die gesamtgesellschaftliche Relevanz des Themas hervor. Eröffnet wurde die Veranstaltung sodann von Prof. Dr. iur. Christian Katzenmeier (Institut für Medizinrecht) mit einer Einführung in die Problematik sowie von Prof. Dr. med. Christiane Woopen (ceres). Vor den Referaten erfolgte die Verleihung des Adolf-Laufs-Medizinrechtspreises an Dr. iur. Björn Schmitz-Luhn für seine Arbeit zum Thema „Priorisierung in der Medizin“ (Springer, 2015).

In einem ersten Themenblock beleuchteten die Fachvertreter der Medizin, Prof. Dr. med. Hans-Detlev Saeger (em. Direktor der Klinik für Viszeral-, Thorax- und Gefäßchirurgie, Universitätsklinikum, TU Dresden) und Prof. Dr. med. Hans-Friedrich Kienzle (Chefarzt der Chirurgischen Klinik Köln-Holweide i.R.) die Grundlagen und Grundfragen des Standardbegriffs in der Medizin aus medizinisch-wissenschaftlicher sowie gutachterlicher Perspektive. Es folgte eine erste Diskussionsrunde. Dabei wurde insgesamt deutlich, dass die Medizin Standards und insbesondere einer Standardisierung durchaus skeptisch gegenübersteht.

Im Themenblock „Sozialrecht“ präsentierte Dr. iur. Anne Barbara Lungstras (Richterin am SG Berlin) den Standard des SGB V. Es wurde erläutert, wie im Zusammenspiel von Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot, Leistungs- und Leistungserbringungsrecht für die vertragsärztliche Versorgung sowie die Krankenhausbehandlung bestimmt wird, welche Leistungen zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erbracht werden dürfen. Darauf aufbauend sowie vorgreiflich auf die zivilrechtlichen Vorträge ging Prof. Dr. iur. Thorsten Kingreen (Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht, Universität Regensburg) der Frage nach, inwieweit die sozialrechtliche Standardsetzung als Vorbild für das Zivilrecht dienen kann. Kingreen bezeichnete insofern vor allem die mangelnde demokratische Legitimation der an der sozialrechtlichen Standardsetzung beteiligten Gremien der Gemeinsamen Selbstverwaltung als problematisch.

Wolfgang Frahm (Vorsitzender Richter am OLG Schleswig) führte im dritten Vortragsblock in die Begriffsmerkmale des arzthaftungsrechtlichen Facharztstandards, dessen Ermittlung im Prozess sowie die Bedeutung medizinischer Leitlinien für die zivilrechtliche Standardbestimmung ein. Prof. Dr. iur. Christian Katzenmeier erörterte sodann die Konsequenzen des zunehmenden Kostendrucks im Gesundheitswesen für die Standards. Er verdeutlichte das Spannungsverhältnis zwischen zivilrechtlichem Sorgfaltsgebot einerseits, sozialrechtlichem Wirtschaftlichkeitsgebot andererseits und warf die Frage auf, ob das Haftungsrecht dem Arzt Leistungen abverlangen kann, die die Krankenkassen nicht finanzieren. Katzenmeier führte aus, dass der zivilrechtliche Sorgfaltsmaßstab die allgemeinen Grenzen im System der Krankenversorgung nicht völlig vernachlässigen kann und zeigte Ansätze zu einer Harmonisierung auf.

Im letzten Vortrag befasste sich Prof. Dr. med. Christiane Woopen mit dem Begriff des Standards „guter“ ärztlicher Behandlung aus der Perspektive der Ethik. Vor allem die Berücksichtigung von Patientenwohl und Patientenpräferenzen wurde hier als ein von den anderen Standardbegriffen vernachlässigtes Kriterium der Standardbestimmung ausgemacht. Im Anschluss an eine vergleichende Betrachtung aller Standardbegriffe kam auch Woopen auf Strategien zur Harmonisierung zu sprechen.

Die abschließende, ausführliche Podiumsdiskussion unter Beteiligung aller Fachvertreter wurde moderiert von Vera von Pentz (Richterin am BGH, Stellvertretende Vorsitzende des u.a. für das Arzthaftungsrecht zuständigen VI. Zivilsenats). Referenten und Publikum debattierten angeregt und mitunter kontrovers darüber, welche Auswirkungen die divergierenden Standards insbesondere des Haftungs- und Sozialrechts auf die Praxis medizinischer Versorgung haben und welche Möglichkeiten bestehen, auf etwaige Spannungen zu reagieren. Dabei ergaben sich wertvolle Erkenntnisse für die weitere wissenschaftliche Debatte und zukünftige Ausrichtung der Gesundheitspolitik.