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"Ein Staat ohne Bürger?"

Professorin Nußberger und Ekaterina Schulmann über russ. Zivilgesellschaft

Anfang 2022 gab es in Russland – trotz zunehmender Repression – immer noch Raum für ziviles Engagement. Doch mit dem verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine wurden auch die Reste dessen zunichtegemacht, was die demokratische Zivilgesellschaft 30 Jahre lang aufgebaut hatte. Es stellt sich daher die Frage: Gibt es in Russland heute noch eine Zivilgesellschaft? Wenn ja, wie steht es um ihre Zukunft und ihre Chancen, die Politik zu beeinflussen? Oder befindet sie sich bereits im Prozess der totalitären Transformation? Diesen und weiteren Themen widmete sich eine Podiumsdiskussion zwischen Professorin Angelika Nußberger und der bekannten russischen Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann am 23.11.2022 im Lesesaal der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz, die ein großes Publikum aus ganz NRW anzog.

Zunächst gaben Angelika Nußberger und Ekaterina Schulmann, die seit April Fellow an der Berliner Robert Bosch Academy ist und daraufhin in Russland zur „ausländischen Agentin“ erklärt wurde, jeweils einen Impulsvortrag.  Angelika Nußberger begann mit der Außenperspektive und stellte zehn Thesen zur russischen Zivilgesellschaft vor, die auf ihrem im Herbst verfassten OSZE-Bericht „Report on Russia's Legal and Administrative Practice in Light of its OSCE Human Dimension Commitments“ (https://www.osce.org/odihr/526720) im Rahmen des sog. Moskauer Mechanismus fußen. Frau Professorin Nußberger stellte dar, wie die Machtvertikale mit dem Präsidenten an der Spitze in den letzten zehn Jahren systematisch aufgebaut wurde und so die in der russischen Verfassung ursprünglich angelegte vertikale und horizontale Gewaltenteilung völlig leerläuft. Die zeitgleich zu beobachtende zunehmende Repression der Zivilgesellschaft sei dabei meist durch Gesetze abgesichert worden, was „fast schon eine Ironisierung des Gesetzesvorbehalts“ als Grundidee des Rechtsstaats sei. Als Kernstück der Repressionsgesetzgebung identifizierte Frau Professorin Nußberger das – seit 2012 vielfach verschärfte – Gesetz über „ausländische Agenten“. Nicht zuletzt auch an Putins Rechtfertigung der russischen Invasion in die Ukraine, die sich stark auf das Völkerrecht stützt, werde der „zynische Umgang mit Recht“ im heutigen Russland sichtbar. Seit Februar 2022 werde der „Schein von Rechtsstaat“ in Russland aber nicht mehr aufrechterhalten.

Ekaterina Schulmann eröffnete ihre Analyse aus der Innensicht mit der Feststellung, dass eine totalitäre Transformation der russischen Zivilgesellschaft zum jetzigen Zeitpunkt keineswegs selbstverständlich sei. Dafür sei die russische Gesellschaft viel zu passiv und konformistisch, zu wenig strukturiert und zu vereinzelt. Es handle sich um eine Gesellschaft von Individualisten ohne eigene Subjektivität, die von dem Gefühl der eigenen Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit geprägt seien. Der zunehmend autoritäre russische Staat habe das in den 1990er Jahren aufkommende und als Bedrohung wahrgenommene zivilgesellschaftliche Engagement Einzelner systematisch erschwert und unterdrückt. Insbesondere auch die Entstehung gesellschaftlicher Organisationen, wie unabhängige politische Parteien und Gewerkschaften, wurde verhindert. In der Breite der Gesellschaft sei daher die positive Erfahrung, dass man selbst etwas verändern könnte, ausgeblieben. Diese erzwungene Erziehung zur Passivität ist laut Frau Schulmann der Grund, weshalb sich die russische Gesellschaft heute auch nicht zu Protesten organisieren und mobilisieren (lassen) könne. Gleichzeitig sei unter diesen Bedingungen aber auch ein totalitärer Staat, für den sich die Menschen aufopferten, kaum denkbar. Umso wichtiger sei es daher jetzt, eine Ideologisierung der jüngeren Generationen im heutigen Russland zu verhindern. Vor diesem Hintergrund warnte Schulmann vor einer vollständigen Isolation der russischen Gesellschaft in Reaktion auf die Kriegsverbrechen in der Ukraine.

Nach knapp zwei Stunden Diskussion und vielen Fragen vom – zum Großteil auch russischsprachigen – Publikum wurde das Gespräch bei einem kleinen Umtrunk fortgesetzt. Die auf Deutsch und Russisch live gestreamte und anschließend auf YouTube veröffentlichte Veranstaltung hatte auch im digitalen Raum eine große Reichweite. Besonders in Russland und in der russischsprachigen Diaspora ist die Diskussion auf großes Interesse gestoßen – der russischsprachige Mitschnitt hat weit über 40.000 Zugriffe auf YouTube.

Die Aufzeichnung auf Deutsch finden Sie unter https://www.youtube.com/watch?v=DZ4T2QVrQfY, zur russischen Version gelangen Sie mit folgenden Link: https://www.youtube.com/watch?v=unnECy253rg.

Bei der Diskussionsveranstaltung handelte es sich um eine Kooperation der Zweigstelle Köln/Bonn der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, der Deutschen Sacharow Gesellschaft, der Universität zu Köln (Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz) und des Lew Kopelew Forums. Die Veranstaltung fand im Rahmen des Projekts „Dialoge in der Turbulenzzone“ statt, das vom Auswärtigen Amt unterstützt wird.

Bericht von Laura Jäckel, Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz

 

Weitere Veranstaltungen der Zweigstelle Köln/Bonn der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, deren Kölner Teil bei Professorin Angelika Nußberger am Institut für osteuropäisches Recht und Rechtsvergleichung unter dem Dach der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz angesiedelt ist, finden Sie unter https://academy-humanrights.uni-koeln.de/iorr/zweigstelle-koeln-bonn-der-dgo.