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Abschlusskonferenz des Forschungsprojekts "Memocracy"

Vom 11. bis 12. September 2024 wurde in München die Abschlusskonferenz "Memory Rights and Memory Wrongs" des Forschungsprojekts der Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz in Kooperation mit der School of History und der Kolleg-Forschungsgruppe "Universalism and Particularism in European Contemporary History" der Ludwig-Maximilians Universität abgehalten.

Die Abschlusskonferenz „Memory Rights and Memory Wrongs“ des von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojekts ‚Memocracy’ fand am 11. und 12. September 2024 in München statt, wo sie in Kooperation mit der School of History und der Kolleg-Forschungsgruppe „Universalism and Particularism in European Contemporary History“ der Ludwig-Maximilians-Universität ausgerichtet wurde. Die Akademie für europäischen Menschenrechtsschutz war mit ihrer Direktorin Prof. Dr. Dr. h.c. Dr. h.c. Angelika Nußberger M.A., die das ‚Memocracy’ Forschungskonsortium als eine der vier Principal Investigators leitet, Dr. Paula Rhein-Fischer, Postdoktorandin im deutschen ‚Memocracy’ Team, sowie fünf weiteren Akademiemitgliedern vertreten. Auch von der Kolleg-Forschungsgruppe, der Professorin Nußberger als Distinguished Fellow derzeit angehört, nahmen zahlreiche Mitglieder teil.

Nach einer Begrüßung durch Professorin Nußberger seitens ‚Memocracy’ und Prof. Kiran Klaus Patel seitens der Kolleg-Forschungsgruppe begann die Konferenz mit dem Panel „Memory Laws – the Road to Autocracy? Case Studies on eight European Countries“. Das von Professorin Nußberger moderierte Panel versammelte fünf ‚Memocracy’ Fellows, die in Länderberichten die Ergebnisse des Forschungsprojekts vorstellten. Dr. Paula Rhein-Fischer machte den Auftakt und erläuterte, wie Memory Laws in Deutschland heute die Erinnerung an den Nationalsozialismus regeln und welche Besonderheiten im spezifischen Kontext der deutschen Erinnerungspolitik erkennbar sind. Nach einer Systematisierung der bestehenden rechtlichen Regelungen warf der Vortrag auch die Frage auf, welches Rechtsgut bzw. Interesse die Erinnerungsgesetze in Deutschland wohl schützen (sollen): Von den Opfern des Nationalsozialismus bzw. deren Nachkommen, über die Würde des Menschen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung oder die kollektive Erinnerung, bis hin zur „historischen Wahrheit“ kommen hier grundsätzlich verschiedene Zwecksetzungen in Betracht. Je nach Antwort, könnte demnach eine nicht nur zu begrüßende Instrumentalisierung der Erinnerung und der Opfer für Gemeinwohlzwecke im Raum stehen – ein Vorwurf, der im gegenwärtigen deutschen Erinnerungsdiskurs immer wieder erhoben wird. Über Memory Laws in Polen und Ungarn sprachen Dr. Anna Wójcik und Dr. Mirosław Sadowski von der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Beiden Staaten ist gemeinsam, dass sie in der jüngsten Vergangenheit eine Episode des Demokratieabbaus erlebten, die mit einer verstärkten und aggressiveren Erinnerungsgesetzgebung einherging, wobei diese Phase in Ungarn noch andauert. Während der polnische Bericht u.a. den großen Einfluss des Instituts für Nationale Erinnerung auf die Erinnerungspolitik in Polen thematisierte, stellte der ungarische Bericht nicht zuletzt die erinnerungspolitische Bedeutung der neuen ungarischen Verfassung von 2011 heraus. Der dritte Länderbericht behandelte die drei baltischen Staaten und wurde von Dr. Dovilė Sagatienė von der Universität Kopenhagen präsentiert. Der Vortrag beleuchtete wesentliche Unterschiede zwischen Estland, Lettland und Litauen, arbeitete jedoch auch die Gemeinsamkeit heraus, dass im Baltikum heute die Erinnerung an die sowjetischen Verbrechen der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg klar dominiere, während das unbequeme Thema der Kollaboration im Holocaust nur wenig Aufmerksamkeit erfahre. Zuletzt sprach Dr. Andrii Nekoliak von der Universität Amsterdam über die rechtliche Regulierung von historischer Erinnerung in Russland und der Ukraine, die Anwendung von Erinnerungsgesetzen durch nationale Gerichte und die Frage der Konformität mit der Europäischen Menschenrechtskonvention. Im Fokus standen dabei auch die „quasi-historische“ Argumentation durch Russland zur Legitimierung seines vollumfänglichen Angriffskriegs gegen die Ukraine, sowie die ukrainische Perspektive auf den Krieg als eine Fortsetzung des Kampfes gegen den russischen Imperialismus.

Das zweite Panel „Remembrance and Constitutional Identity“ behandelte den Zusammenhang von Erinnerung und Verfassungsidentität aus unterschiedlichen disziplinären und nationalen Perspektiven und wurde von Prof. Dr. Magnus Brechtken von der Ludwig-Maximilians-Universität München moderiert. Zunächst befasste sich Dr. Uladzislau Belavusau von der Universität Amsterdam, Principal Investigator im ‚Memocracy’ Forschungskonsortium, mit dem Thema „Mnemonic Constitutionalism, Jewish Past and Politics of Citizenship“. Der Jurist und Experte für Memory Politics erläuterte das normative Phänomen des „mnemonic constitutionalism“, bei dem es sich aus seiner Sicht der Sache nach um ein wertneutrales Instrument handele, bevor er anhand von Beispielen aus dem Staatsangehörigkeitsrecht in Deutschland, in Spanien und Portugal, sowie in Israel die Bedeutung der jüdischen Vergangenheit als Meta-Identitätsnarrativ aufzeigte. Anschließend sprach Prof. Marta Bucholc von der Universität Warschau über „Constitutional Identity and the Contentious Memory Dynamics behind National Habitus Formation in the EU“. Am Beispiel der Verwendung des Konzepts der „Verfassungsidentität“ in der Rechtsprechung des polnischen Verfassungsgerichtshofs beleuchtete die Rechtssoziologin den Begriff und machte auf dessen problematische Verknüpfung mit dem Konzept der „nationalen Identität“ aufmerksam. Als dritter Panelist sprach Prof. Frank Schorkopf von der Universität Göttingen zum Thema „Constitutions as Mirrors of Historical Knowledge: The Promise of German Constitutional Identity“. Der Verfassungs- und Europarechtler zeichnete vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte einerseits sowie im Kontext der sich über die Jahre fortentwickelnden europäischen Integration andererseits die Bedeutung der durch die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur geprägten Verfassungsidentität im Grundgesetz nach. Darüber hinaus zeigte er auf, wie der Gerichtshof der Europäischen Union und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in ihrer jüngsten Rechtsprechung mit Fragen der Verfassungsidentität umgehen.

Unter dem Titel „Remembrance and Populism“ widmete sich das dritte Panel, moderiert von Dr. Patryk Labuda, der an der Polnischen Akademie der Wissenschaften im ‚Memocracy’ Projekt forscht, verschiedenen Phänomenen von Erinnerungspolitik im Kontext von Populismus und Autokratie. Dr. Aleksandra Gliszczyńska-Grabias von der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Principal Investigator im ‚Memocracy’ Forschungskonsortium, sprach über „Legal Populism and Holocaust Remembrance in Poland“. Der Vortrag thematisierte gegenwärtige Versuche, die polnische Geschichte zu politischen Zwecken zu vereinnahmen, sei es durch die bis 2023 amtierende Regierungspartei, sei es durch kursierende antisemitische und anti-ukrainische Verschwörungstheorien, die das Problem des „competitive victimhood“ in Polen verdeutlichen. Am Beispiel des national wie international heftig kritisierten sogenannten Holocaust-Gesetzes von 2018 zeigte die Juristin überdies kritisch auf, wie alle Seiten des politischen Spektrums in Polen von der Symbolik eines „Erinnerungspopulismus“ profitierten, was eine Gesetzesänderung heute erschwere. Anschließend richtete Prof. Andrea Petö von der Central European University mit ihrem Vortrag über „Roots of Illiberal Memory Politics: Remembering Women in the 1956 Hungarian Revolution“ den Blick auf Ungarn. Die Historikerin machte greifbar, wie der illiberale ungarische Staat die Erinnerung an den Widerstand gegen das kommunistische Regime aushöhlt und durch die Einführung hegemonialer Narrative für sich instrumentalisiert. Beispielhaft deutlich werde dies am Narrativ vom „nationalen Feminismus“ im Kontext der ungarischen Revolution von 1956, das bewusst Frauen in den Mittelpunkt rücke. Der Beitrag von Prof. Peter Vermeersch von der KU Leuven über „Symbols of National Memory in Pro-Democracy Activism: The Case of Belarus“ behandelte die belarussische Demokratiebewegung von 2020 und untersuchte, welche Rolle die ‚neue’ weiß-rot-weiße Nationalflagge darin gespielt hat. Neben der großen Bedeutung dieser Flagge für den kreativen ‚bottom-up‘ Widerstand und die Mobilisierung der Bevölkerung wies der Politikwissenschaftler auch auf deren Ambivalenz bzw. das Risiko des Missverstanden Werdens hin.

Ein weiterer Höhepunkt des ersten Konferenztages war die Keynote des ukrainischen Richters am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Dr. Mykola Gnatovskyy. In seinem Vortrag zum Thema „Regulating memory in Europe: A Tool to Protect Human Rights and Rule of Law or a Weapon to Destroy Them?“ machte er das Argument stark, dass nationale Identität auf positiven Elementen der Erinnerung aufgebaut werden solle, nicht auf einer kollektiven Opferrolle. Letztere sei insbesondere mit Blick auf das Phänomen des „competitive victimhood” gefährlich, da sich daraus Konflikte für die Zukunft ergeben könnten. Daran anknüpfend merkte Richter Gnatovskyy an, dass die im Begriff Genozid angelegte Fokussierung auf Gruppen statt auf Individuen ein Denken in den Kategorien von kollektiven Opfergruppen vertiefe – eine Problematik, die der Straftatbestand Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht mit sich bringe.

Am Donnerstagmorgen eröffnete das Panel „Remembrance and Foreign Policy“ den zweiten Tag der ‚Memocracy’ Abschlusskonferenz. Prof. Martin Schulze Wessel von der Ludwig-Maximilians-Universität München begann mit einem Vortrag über die Haltung Deutschlands im Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Darin analysierte er die Bedeutung der historischen Erinnerung Deutschlands an die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes gegenüber der Sowjetunion für die aktuelle deutsche Außenpolitik. Prof. Maria Mälksoo von der Universität Kopenhagen, Principal Investigator im ‚Memocracy’ Forschungskonsortium, knüpfte mit einem Vortrag über die aktiven Bemühungen der baltischen Staaten an, Russland nach dem Ende des Angriffskrieges gegen die Ukraine zur Verantwortung zu ziehen. Die Bestrebungen der baltischen Staaten zeigten exemplarisch, wie kollektive Erinnerung aktuelle Außenpolitik und Sicherheitsstrategien beeinflusse und welche Rolle Rechenschaftspflicht als Sicherheitsmaßnahme und Abschreckungsmechanismus spiele. Daran schloss sich ein Vortrag von Dr. Marco Siddi von den Universitäten Helsinki und Tampere an, der die Nutzung historischer Erinnerung in der Außenpolitik erforschte. Thematisiert wurden die Konstruktion historischer Narrative, die Formulierung historischer Analogien sowie das proaktive Vergessen und Marginalisieren der Vergangenheit als politische Maßnahmen. Als Fallbeispiel wurde Italiens Politik des Vergessens seiner kolonialen Vergangenheit erörtert. Die anschließende Frage- und Antwortrunde mit Beiträgen aus dem Publikum moderierte Dr. Gleb Bogush von der Universität zu Köln.

Das zweite und letzte Panel war ein Roundtable zum Thema „Remembrance in the Digital Age“. Dr. Ana Milošević von der KU Leuven begann mit einem Vortrag über die „Enthistorisierung im digitalen Zeitalter“. Im Mittelpunkt standen Fragen und Fallbeispiele zum digitalen Gedächtnis, ein Schwerpunkt lag auf dem Lesen und Zusammenfassen des digitalen Gedächtnisses von Gedenkstätten. Vorgestellt wurde ebenso ein neues Verständnis von Erinnerung, das nicht nur Erfahrung und Wissen über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart umfasst. Daran anknüpfend referierte Prof. Taha Yasseri vom Trinity College Dublin zum Thema „Large Language Models and Standardisation of Collective Memory”. Anschaulich wurde aufgezeigt, an welchen Stellen und in welchem Ausmaß es KI-Sprachmodellen wie ChatGPT an Diversität und Meinungsvielfalt mangelt, weil sie schließlich auf den durchschnittlich gegebenen Antworten basieren. Als letzte Rednerin der ‚Memocracy’ Abschlusskonferenz diskutierte Dr. Vera Zvereva von der Universität Jyväskylä die Probleme des disjunktiven Gedächtnisses sowie die Rolle und Berichterstattung der digitalen Medien im Russland der 2020er Jahre in diesem Zusammenhang.

Die abschließende Diskussion wurde von Jakob Wetzel, Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, moderiert und rundete zwei inspirierende Tage des Austauschs über die vielfältigen rechtlichen und politischen Herausforderungen im Kontext von Erinnerung im Europa der Gegenwart ab.

Weitere Informationen finden Sie unter https://academy-humanrights.uni-koeln.de/. Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an akademie-menschenrechtsschutzSpamProtectionuni-koeln.de.

Bericht: Laura Jäckel und Anna Stepanskaja

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